Shasime

Jurastudentin, Hilfsassistentin bei Kellerhals Carrard, SP-Kandidatin für den Berner Stadtrat, Co-Leiterin des Verein «kritische Jurist:innen unibe»

Kannst du dich noch daran erinnern, wie du dich für ein Studium im Allgemeinen, aber auch für eine bestimmte Fachrichtung, entschieden hast und was oder vielleicht wer für da dich bei entscheidend war?

Ich habe nicht direkt mit einem Studium begonnen, sondern zuerst eine Lehre als Kauffrau absolviert – mit der Idee, dass ich dann ein Studium absolviere, das ich mir selbständig finanzieren kann, indem ich mit meiner gutbezahlten Ausbildung einen guten Nebenjob finde.

Die Lehre habe beim Bundesamt für Polizei absolviert, weil ich mich für die Justiz und das Polizeiwesen interessierte und weiterhin tue. Während meiner Lehre wurde ich darin bestärkt, das bereits geplante Hochschulstudium auf jeden Fall weiterhin anszutreben und nicht den Polizeiberuf wähle.

Der Wunsch kam nicht von ungefähr: Ich wollte eigentlich schon immer Jus studieren, es stand schon in meinem Tagebuch in der zweiten Klasse, dass ich Richterin werden will. Das war schon früh klar.  Während der Matura habe ich dann im Fach Jus geschnuppert, und mir schien einfach die Stimmung sehr arrogant, nicht wirklich angenehm und dann habe ich mich für das Geschichts- und Philosophiestudium entschieden, das hat mir dann fachlich nicht gefallen hat.

Und dann wollte ich quasi «back to the Roots» und habe dann nochmals im Jus, dieses Mal im Völkerrecht, geschnuppert, habe dem Ganzen nochmal seine Chance gegeben und habe gemerkt: Okay, das Fach ist grossartig, der Professor auch und die Stimmung ist diese Mal anders. Wie in jedem Studiengang werden nie alle Menschen überall meine politische Einstellung teilen oder mir entsprechen, aber im Völkerrecht sagte mein Herz und Bauch: Das ist es jetzt. Und dann habe ich allen Mut aufgebracht und nach einem Jahr Geschichtsstudium zu einem Jusstudium gewechselt. Die Entscheidung war goldrichtig.

Du hast eine Matura für Erwachsene absolviert, kannst du mir etwas dazu sagen?

Das Gymnasium im Neufeld bietet eine Erwachsenen-Matura an. Zuerst mal will ich betonen, dass wir ein zugängliches und breites Bildungssystem haben, das bestimmt allen Menschen einen Weg ebnet. Da bin sehr stolz auf die Schweiz. Es hätte noch die Möglichkeit der Passerelle gegeben, für die ich mich dagegen entschied. Auch dort war die Finanzierung eigentlich der grösste Faktor. Die Passerelle hätte 10’000 Franken gekostet und das wäre in einem Jahr zu absolvieren gewesen. Es wäre schneller gegangen, aber die Erwachsenen- Matura war für mich mit einer Berufsmatura auf fünf Semester ausgelegt, hatte

Von der Erwachsenenmatura habe ich dann zufälligerweise erfahren, als ich mich über die Passerelle informierte. Noch am gleichen Tag rief ich den Rektor an und traf mich mit ihm am Samstagmorgen vor seinem Geografie-Unterricht. Er hat mich dazu ermutigt, ein die Erwachsenenmatura zu absolvieren. Ich wurde an jenem Samstagmorgen sehr gut beraten und die Entscheidung war sofort gefallen. Und das war auch eines der besten Entscheidungen die Erwachsenen-Matura dort zu absolvieren. Die Erwachsenenmatura ist übrigens von Stipendien abgedeckt, das ist gut zu wissen und eine grosse Erleichterung für die Betroffenen.

Ich habe das leider erst im Nachhinein erfahren und nebenbei bis zu 60% gearbeitet. Das wurde so zur Belastungsprobe:  Es war nicht einfach, dann immer am Abend und am Samstag in die Schule zu gehen und geistig zu leisten. Aber es hat mich bereichert, persönlich und beruflich.

Wie hast du den Studieneinstieg und das Studium miterlebt? Wie hast du dich am Anfang gefühlt oder zurechtgekommen und wie war es während des Studiums?

Das war ziemlich anders, man ist nicht vorbereitet auf die Uni, auch nicht, wenn man eine Passerelle beziehungsweise eine Erwachsenenmatura und nebenbei 60% arbeitet. Die Uni ist ein eigenes Kaliber, wenn es um Belastung und Disziplin geht. Das erste Jahr habe ich entsprechend als sehr streng erlebt und es ging noch strenger weiter. Im Gegensatz zum Geschichtsstudium ist das Jusstudium ein reines Leistungsfach, die Belastung viel höher und die ECTS-Aufwandsberechnung bekommt eine neue Bedeutung. Dann wurde mir sehr schnell klar, dass es jetzt eine Lösung braucht, weil meine Vision der Eigenfinanzierung, wie ich es mir während der Lehre vorgestellt hatte, eher zu einer Illusion wurde. Die Idee einer Uni ist nicht, dass man nebenbei viel arbeitet oder ein Teilzeitstudium macht, weswegen ich auch auf Empfehlung von Menschen, die bereits kantonale Stipendien bezogen, ermutigt wurde, selbst Stipendien zu beziehen. Mit den Stipendien kam eine grosse Erleichterung, ich konnte mich nun 100% aufs Studium fokussieren.

Du hast Finanzierungsfragen auch schon angesprochen. Finanzierungsfragen haben einen Einfluss auf verschiedene Aspekte wie Bildungsentscheidungen, das Studium, usw. Wie war es für dich?

Meine Familie ist eine klassische Arbeiter*innenfamilie, die einen Migrationshintergrund hat. Wenn man in einem sozioökonomisch-schwachen Umfeld aufwächst, dann sind diese Fragen immer präsent. Einen akademischen Weg einzuschlagen, ist sowieso eher ungewöhnlich, die meisten Studierenden haben schon Eltern, die studiert haben und die Geldfrage sicher kein Thema war. Hat man meinen Hintergrund, dann hat man sehr schlechte Spielkarten.

Und dann kommt diese Finanzierungsfrage und die war dann bei mir extrem präsent, denn ich habe eine Familie, die bis heute sehr schlecht verdient, meine Eltern verdienen nicht mal gemeinsam den Median-Lohn, den wir in der Schweiz haben. Und dann steht man vor dieser Frage und weiss, dass jetzt eine Lösung gefunden werden muss, damit das Studium überhaupt möglich ist. Ein Uni-Teilzeit-Studium war keine Option. Und dann stand eigentlich nur noch der Weg des Stipendiums offen und da wurde ich von verschiedenen Freund:innen beraten, die schon Stipendien hatten und auch stark ermutigt, mir das anzuschauen und sie auch zu beantragen. Und ich habe lange auch gekämpft mit mir selbst, weil ich dann quasi mir sagen musste ich, ich lebe auf Staatskosten, das heisst, mir werden Steuergelder bereitgestellt, damit ich aus der sozioökonomischen Schicht aussteigen darf und dieses Studium machen kann. Ich musste mich dann selbst an meine politische Einstellung erinnern und sagen, dass das ja ein sozialdemokratisches Anliegen ist, das auch in Anspruch nehmen sollte und nicht nur für andere politisch erkämpfe.

Aber die Frage hat mit viel Schuldgefühlen und mit Zukunftsängsten zu tun. Ich glaube, wenn man in einem armen Haushalt aufwächst, dann wird man das Leben lang mit dieser Frage konfrontiert.

Wie wurde das Studium innerhalb der Familie besprochen oder wie wurde damit umgegangen, wie bist du mit dem Thema Familie und Studium umgegangen?

Mein Großvater ist im 1979 in die Schweiz eingereist, aus dem damaligen Jugoslawien und mein Vater ist 1993 als Sechzehnjähriger nachgezogen und dann geht eine Generation später eines der Kinder und wird hoffentlich Anwältin. Und es war nicht einfach, weil ich mich immer in einem konservativen Umfeld, besonders als Frau, beweisen musste. In meiner Familie war das tendenziell nicht vorgesehen, dass Frauen eine Hochschule besuchen, das war komplett fremd.

Deswegen hat es immer sehr viel mehr Kampfgeist meinerseits gebraucht. Und wenn die Finanzierungsfrage noch dazu kommt, dann sind dann alle überfordert, weil sie wissen, sie können dir nicht helfen, weil sie dich schlicht und einfach nicht unterstützen können. Ich glaube, je länger man studiert, desto offener werden sie. Heute ist das kein Problem mehr und alle sind stolz, dass ich die erste Akademikerin in der Familie, weit und breit, sein kann.

Du bist jetzt im fünften Semester vom Jus Bachelorstudium. Planst du diene Zukunft, lässt du bestimmte Sachen sich ergeben?

Oh. Also ich plane meine Sachen gerne. Meistens kommt es dann anders. Ich glaube, wenn man das Studium plant, nicht die komplette Zukunft, aber das Studium, dann muss man einfach realistisch sein. Genug Zeit zum Studieren und zum Lernen einbauen und danach ehrlich sein zu sich selbst. Und auch die Finanzierungsfrage klären, habe ich zum Beispiel genügend Mittel, um auch eine strenge Prüfungsphase zu durchstehen.

Ich mache sicher den Bachelor fertig und arbeite in der Kanzlei, bei der ich momentan sehr happy bin. Es ist auch gut, während dem Studium im eigenen Beruf oder im eigenen Fach Erfahrungen zu sammeln. Ob ich dann sofort ein Masterstudium beginne oder ob mal auch ein Auslandssemester oder eine Pause drin liegt, das habe ich mir nicht überlegt. Aber ich glaube, es ist gut, wenn man einfach häppchenweise sicher etwas abschliesst und dann sich den nächsten Schritt überlegt.

Und dass ich dann das Patent mache, das ist natürlich das finale Ziel, aber es ist auch erst in drei Jahren eine Frage. Auch dort gibt es Bewerbungsfristen, man muss sich ein Jahr vorher für die Kanzleien und für die Behördenpraktikas bewerben. Die Zukunftsplanung ist auf jeden Fall immer sehr präsent, aber es gibt sicher auch Überraschungen, die kommen werden, da bin ich mir sicher.

Gab es Schlüsselpersonen, die für dich sehr wichtig waren?

Ja, tatsächlich, eine Schlüsselperson während meiner Schulzeit gab es. Es war meine Klassenlehrerin in der Oberstufe, Frau Dubler, wenn ich sie namentlich erwähnen darf. Ich habe noch heute Kontakt zu ihr, sie hat mir immer gesagt, dass ich ein schulisches Talent habe und sie mich unbedingt in dem fördern will. Ich bin auch in Bern-Bethlehem aufgewachsen, es wird heute immer noch als Problem-Viertel abgestempelt. Sie hat mich besonders unterstützt und gefördert, hat mir auch die Empfehlung gegeben, dass ich die Berufsmatura mit der Lehre gemeinsam absolvieren durfte, weil ich nicht ins Gymnasium wollte.

Sie war sehr wichtig, weil sie mein schulisches Talent erkannt hat und mich in dem realistisch gefördert hat. Also nicht in den Himmel hochgelobt, sondern eher sagte: Mach das und ich glaube an dich. Und sie war sehr ehrlich und das hat mir sicher sehr geholfen. Sie war sicher eine wichtige Schlüsselperson. Und dann waren da meine Geschwister, die mich immer unterstützt haben. Ich bin die älteste der drei Kinder und sie haben immer gesagt: Du bist die, die das schulische Talent hat in unserer Familie und du sollst das unbedingt auch schulisch weiterfahren.

Dann gab es immer wieder Personen, die mich stark unterstützten. Ich würde die Lehre auch als Schlüsselmoment bzw. Phase bezeichnen, wo ich gemerkt habe, dass ich nicht die Polizeischule machen werde, sondern eher weiterhin auf ein Hochschul-Studium hinarbeite.  

Ich glaube, man findet immer wieder Menschen im Leben, die dich bereichern. Auch meine Grossmutter, die leider nicht mehr lebt, sie hat mich auch sehr fest unterstützt. Und ich war auch selbst immer genug selbstbewusst und ehrgeizig, dass ich gespürt habe, was ich machen will. Dann habe ich manchmal auch die richtigen Menschen getroffen, die mich in meinem Ehrgeiz und meinem Selbstbewusstsein bestätigt haben.

Was sind deine Ratschläge an First-Generation-Students?

Seid mutig. Es ist toll, dass ihr die ersten seid, das ist nicht etwas Schlechtes. Es ist sogar etwas sehr Gutes, dass es in der Familie auch Menschen gibt, die jetzt studieren gehen. Seid mutig, seid euch aber auch bewusst, dass man einen Mehraufwand betreiben muss. Also es ist anders, wenn die Eltern nicht studiert haben. Man hat nicht Informationen aus erster Hand, man hat niemanden, der das nachfühlen kann.

Die Finanzierungsfrage, bitte beschäftigt euch vor dem Studium mit dieser Frage. Klärt ab, ob ihr stipendienberechtigt, privat oder öffentlich seid, ob ein Nebenjob drin liegt. Sie wird präsenter sein, wenn man nicht aus einem Haushalt kommt, wo man einfach so 3’000 Franken pro Monat Sackgeld bekommt. Dann wird man mit dieser Frage zwangsläufig konfrontiert und sie kann sehr unangenehm sein.

Schützt die psychische Gesundheit, setzt euch frühzeitig mit dem auseinander. Geht in die Studienberatungen. Nehmt es ernst. Tauscht euch aus mit anderen Generationen aus, zum Beispiel mit fortgeschritteneren Studierenden. Fühlt euch nicht schlecht, seid stolz auf euch, dass ihr so weit gekommen seid.

Ich hätte gerne von Anfang an gewusst, dass es Stipendien gibt, und es ist auch wirklich ein harter Weg, diese zu beantragen auch dort, lasst den Kopf nicht hängen, ihr habt ein Anrecht darauf. Fühlt euch nicht schlecht, ihr werdet genug Steuergelder später zahlen und das längstens herausholen. Im Namen der Chancengleichheit: Nehmt diese Stipendien.

Habt auch Spass am Studium. Und die Finanzierungsfrage erlaubt den Spass erst recht, weil ihr sorgloser seid, als wenn ihr euch noch um diese Frage kümmern müsst und nehmt einfach alles in Anspruch, was euch zusteht.

Erklärt euren Eltern, was ein Studium bedeutet, es ist ein harter Job.

Und die Ohren sowie Augen offen behalten und breit vernetzen.